Novemberpogrom
Am 9. November 1938, nach den Feierlichkeiten zur Erinnerung an den gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923, die stadtweit unter Beteiligung aller Parteigruppierungen stattfanden, trafen sich die städtische Verwaltungsspitze, die Führungskorps der Partei und der SA in der Gaststätte „Bayerischer Hof“ am Mühlenplatz. Gegen 23 Uhr rief Kreisleiter Peter Berns aus Mettmann an und meldete den Tod des Legationsrats Ernst vom Rath in Paris. Dieser war in der deutschen Botschaft von dem 17-jährigen Juden Herschel Grynspan wenige Tage zuvor angeschossen worden. Er hatte die Tat aus Verzweiflung über die Abschiebung seiner Eltern aus Deutschland nach Polen begangen.
Berns teilte nach einer entsprechenden Ansage von Goebbels aus München mit, „dass auf höherer Weisung wegen des Todes des Gesandtschaftsrates […] in dieser Nacht die Synagogen in Flammen aufgehen und jüdische Geschäfte und Wohnungen demoliert werden sollten, doch solle kein Personenschaden entstehen.“ Der frisch ernannte SA-Oberführer Heinrich Krahne gab dies laut Zeugenaussagen an die versammelten „Amtsleiter der NSDAP, die Führer der NS-Formationen und […] Behördenleiter weiter.“ Es folgte ein allgemeiner Aufbruch. Einige der hochrangigen Parteikader machten sich mit Bezirksinnungsmeisters Wilhelm Tönges auf den Weg zu dessen Tischlerei, um Sägespäne zum Anzünden der Synagoge zu besorgen.
Die 1872 an der Malteserstraße eingeweihte Synagoge war gegen Mitternacht das erste Ziel eines SA-Trupps von 20-30 Mann unter Führung des Obersturmbannführers Alex Katerndahl. Das Gotteshaus wurde geplündert und in Brand gesteckt. Die Feuerwehr schützte lediglich die benachbarten Häuser vor einem Übergreifen der Flammen. Auch die Polizei schritt nicht ein. Ein Polizeiobermeister, der gegenüber der Synagoge wohnte, fotografierte das Geschehen. Sein Film wurde am nächsten Tag beschlagnahmt.
Auf dem jüdischen Friedhof wurde in der Nacht die Friedhofskapelle ausgeräumt, die Einrichtung aufgehäuft und in Brand gesteckt. Gräber wurden geschändet. Am nächsten Tag brachte der SA-Pioniersturm das Dach der Kapelle zum Einsturz, nachdem eine Sprengung misslungen war.
„Die Judenkirche haben sie gestern Nacht ausgebrannt und bis heute Abend soll nichts mehr davon zu sehen sein. Was ist das doch für eine schwere Zeit. Das Schlimmste ist, dass das alles geschehen darf und alles ist still.“
Aus einem Brief der Anwohnerin Bertha Ginsberg nach der Pogromnacht
Die SA wurde nach Mitternacht in Alarmbereitschaft zum Stadthaus beordert, wo Krahne nach Aussage mehrerer Zeugen eine Liste mit Adressen jüdischer Geschäfte und Wohnungen verlas und einzelne Gruppen anwies hier und dort „die Möbel gerade zu setzen“. Die in jüdischem Besitz befindlichen Geschäfte wurden in der Innenstadt, in Wald und Ohligs verwüstet, Schaufensterscheiben eingeschlagen. Arzt- und Anwaltspraxen wurden ebenso wie Privatwohnungen heimgesucht. Der Pogrom machte dabei auch vor konvertierten Juden und vor „Mischehen“ keinen Halt.
Der kommunistische Feuilletonist Max Leven wurde von vier NS-Funktionären überfallen und schließlich in seinem Schlafzimmer erschossen. Sein Mörder Armin Ritter, Hausmeister der benachbarten AOK, wurde zwar gerügt, aber nicht weiter juristisch belangt.
Nach damaligen Presseberichten wurden 32 Solinger Juden am 10. November in „Schutzhaft“ genommen. 20 Männer sind namentlich bekannt. Sie wurden ins Polizeigefängnis im Keller des Stadthauses an der Potsdamer Straße gesperrt. Elf von ihnen wurden am 17. November in das KZ Dachau bei München deportiert:
- Heinz Dessauer, am 10. Januar 1939 entlassen
- Martin Goldschmidt, am 28. November 1938 entlassen
- Gustav Joseph, brachte sich vermutlich in der Nacht vom 2. auf den 3. Januar 1939 um
- Dr. Hugo Lichtenstein, am 2. Dezember 1938 entlassen
- Dr. Walter Marcus, Mitte Dezember 1938 entlassen
- Kurt Schubach, am 18. Januar 1939 entlassen
- Hugo Sommer, am 5. Dezember 1938 entlassen
- Sally Tabak, am 8. Dezember 1938 entlassen
- Albert Tobias, am 23. Februar 1939 entlassen
- Karl Vasen
- Karl Wallach, am 18. Dezember 1938 entlassen
Aber nicht nur männliche Juden wurden im Polizeigefängnis festgehalten. Bella, die 7-jährige Tochter des Ehepaars Tabak verbrachte die Nacht mit ihrem Vater Sally im Keller des Stadthauses, da ihre Mutter nicht in Solingen war und sie sich weigerte bei ihrem Kindermädchen Betty Reis zu bleiben. Auch Betty Reis wurde angeblich im Rahmen der Pogrome verschleppt und misshandelt, ein genauer Zeitraum konnte bislang nicht ermittelt werden.
Die Rheinische Landeszeitung berichtete am 11. November von vermeintlich „spontanen judenfeindlichen Kundgebungen” und schob die Schuld von den NS-Gruppierungen auf die Solinger Bevölkerung.
Der Hauptzorn der Solinger richtete sich jedoch gegen die Synagoge. In all den Jahren nach der Machtübernahme hatte es immer wieder die deutschen Volksgenossen herausgefordert, daß von dem hohen Dach dieses jüdischen Gebetshauses provozierend der Davidstern, das Symbol des jüdischen Volkes, über Solingen hinwegstarrte. Die Synagoge wurde im Laufe der Nacht von der Volksmenge gestürmt. Die Inneneinrichtung wurde dabei vollkommen zerstört, und später geriet sie in Brand. Das Feuer griff sehr schnell auf den ganzen Bau über. Der Bau brannte vollständig aus. Da die Grundmauern stehen geblieben waren, wurde am gestrigen Tage aus sicherheitspolizeilichen Gründen mit ihrem Abbruch begonnen. Der Davidstern leuchtet nicht mehr über Solingen.
Rheinische Landeszeitung vom 11.11.1938
Einige Täter, wie Max Levens Mörder Armin Ritter oder der NSDAP-Kreispropagandaleiter Arthur Bolthausen, wurden in Nachkriegsprozessen zur Verantwortung gezogen, bekamen aber nur geringe Haftstrafen. Andere, wie der damalige hauptverantwortliche SA-Oberführer Heinrich Krahne, wurden freigesprochen, weil man sich gegenseitig deckte.
Auf der Webseite des Unterstützerkreises Stolpersteine für Solingen finden Sie einen Stadtrundgang zum 9. November, der sie zu den Tatorten der Pogromnacht durch die Solinger Innenstadt führt.
Quellen:
– Stephan Stracke: Der Novemberpogrom 1938 in Solingen, Solingen 2018
– Stadtarchiv Solingen: Rheinische Landeszeitung vom 10.11.1938 und 11.11.1938, Foto Synagoge RS 15816
– The National Archives / fold3.com: Zugangsbücher des Lagers Dachau
– Solinger Geschichtswerkstatt – Manfred Krause (Hg.): „…dass ich die Stätte des Glückes vor meinem Tode verlassen müsste“ – Beiträge zur Geschichte jüdischen Lebens in Solingen. Solingen 2000, darin: Horst Sassin: „Pogrom vom 9./10. November 1938 in Solingen“
– LAV NRW R, Gerichte Rep. 240/150
Pogrom am Pfaffenberger Weg
Bereits vor den Novemberpogromen 1938 hatte die Zahl der in Solingen lebenden Juden und Jüdinnen durch Emigration stark abgenommen. In der Folge wurden die noch verbliebenen Personen in sogenannte „Judenhäuser“ eingewiesen. Das „Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden“ hatte im April 1939 den Mieterschutz für Jüdinnen und Juden aufgehoben. Ziel war die Trennung von der „arischen“ Bevölkerung. Neben vier Häusern in der Innenstadt, die noch im Besitz jüdischer Familien waren, gab es eine weitere Wohnung am Pfaffenberger Weg 190 in Hästen, die die Synagogengemeinde im Sommer 1939 anmietete.
Hierhin wurden die Bewohner der Hochstraße 5 (Am Neumarkt) umquartiert: Friederike Blondine Strauß mit ihrer Tochter Herta und ihrem Schwiegersohn Walter Brauer, die Witwe Vera Stock und das Ehepaar Gisela und Adolf Freireich. Der Solinger Bevölkerung waren sowohl Walter Brauer bekannt, dessen Verfahren und Verurteilung wegen Betrugs Ende 1937, Anfang 1938 durch die Presse gegangen waren, als auch das Ehepaar Freireich, das 1936 wegen angeblichen Hochverrats und Bildung einer kommunistischen Widerstandsgruppe zu zweieinhalb, bzw. drei Jahren Haft verurteilt worden war. Alle sechs hatten aufgrund ihres Alters bzw. ihrer „Vorstrafen“ keine Chance mehr zur Auswanderung. Im Juni 1941 stieß Walter Brauers Mutter Hedwig aus Nürnberg zu der Gruppe.
„Sechsmal ist der Jud Walter Brauer aus Solingen vorbestraft. […] Betrug, Unterschlagung und schwere Urkundenfälschungen, entsprechend seiner Rassezugehörigkeit, sind seine Spezialitäten.“
Das NSDAP-Blatt „Rheinische Landeszeitung“ nahm am 10. Dezember 1937 die Anklage gegen Walter Brauer als Steilvorlage für antisemitische Hetze.
Obwohl Einzelaktionen gegen Juden verboten waren, ließen sich in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli 1941 die Teilnehmer eines Schulungsabends der NSDAP-Ortsgruppe Dorp zu einem Pogrom hinreißen. Reichlich alkoholisiert hatten sie nach dem Vortrag noch die Wirtschaft Schachmann am Pfaffenberger Weg besucht. Nach weiteren Zechgelagen war ein Teil der Männer dann zum „Judenhaus“ weitergezogen.
Unter Droh- und Schmährufen wurden zunächst die Fensterscheiben mit Steinen eingeworfen und die „Herausgabe“ der Juden gefordert. In dem Haus wohnten jedoch nicht nur die jüdischen Mieter, sondern auch das Ehepaar Böntgen. Hans Böntgen und sein Bekannter Otto Konnertz, der bei ihm zu Besuch war, versuchten, die Angreifer zu stoppen. Der stellvertretende Ortsgruppenleiter August Linder, gleichzeitig Ratsherr der NSDAP, gab den Männern jedoch zu verstehen, dass es sich um eine „offizielle Judenaktion“ handele und sie den Weg frei machen sollten.
Es folgte eine brutale Prügelorgie gegen das Ehepaar Brauer, dem es schließlich gelang, aus dem Haus zu fliehen und sich in den angrenzenden Feldern zu verstecken. Vera Stock und Gisela Freireich wurden in ihren Betten mit Stöcken blutig geschlagen und anschließend die Treppen heruntergezerrt. Blondine Strauß und Hedwig Brauer konnten sich offenbar noch rechtzeitig im Haus verstecken.
„Weil im Flur Licht brannte, konnte Böntgen die dortigen Vorgänge erkennen: Brünnert schlug blindlings auf die im Bett liegenden Frauen ein, fasste sie an den Füssen und zerrte sie nach draussen vor die Haustüre, wobei er sie über die fünf Stufen der Steintreppe herunterschleifte. Die Frauen blieben dann wie leblos draussen, vor der Haustüre liegen. Der Angeklagte Balke trommelte im Haus mit dem Stock auf dem Tisch herum und rief aus: ,Hier wird Blut gerührt!’“
Aus der Urteilsbegründung vom 24. Oktober 1947, Quelle: Landesarchiv NRW Rheinland, Gerichte Rep. 240 Nr. 69
Der zuständig Polizeiwachtmeister Hubert Küpper kam erst gegen drei Uhr nachts mit dem Fahrrad am Tatort an. Hans Böntgen hatte ihn, nachdem der wütende Mob verschwunden war, über das Revier alarmiert. Da das Revier selber jede Hilfestellung verweigert hatte, erzwang er auf eigene Faust den Transport von Vera Stock ins Krankenhaus, die lebensgefährliche Kopfverletzungen und Knochenbrüche erlitten hatte. Küpper weigerte sich in der Folge auch, den Bericht zu dem Vorfall derart abzuändern, dass die Beteiligung der Ortsgruppe unerwähnt bliebe.
Die Solinger Gestapo-Nebenstelle unter Leitung von Kriminalsekretär Josef Koke setzte in ihren Untersuchungen alles daran, eine Beteiligung der Ortsgruppe kleinzureden. Die Anweisungen dazu kamen von Josef Hufenstuhl, dem Leiter der Wuppertaler Außenstelle, der sich wiederum bei der Gestapoleitstelle Düsseldorf rückversichert hatte. Auch die Parteileitung versuchte, entsprechenden Druck zu machen. Einen Verantwortlichen wollte man dennoch dingfest machen. Nach zahlreichen Verhören legten zwei der beteiligten Männer ein Geständnis ab und behaupteten, durch den Schulungsabend gegen die Juden aufgehetzt worden zu sein. Außerdem habe das Verhalten Böntgens die Situation erst eskalieren lassen. Obwohl die Angelegenheit Wellen bis nach Berlin geschlagen hatte, verlief die Sache für die Täter juristisch im Sande.
Im Oktober 1941 wurden Herta Brauer, ihr Mann Walter und ihre Mutter Friederike Blondine Strauß nach Lodz deportiert. Hedwig Brauer, Gisela Freireich und Vera Stock kamen im Juli 1942 mit einem Alters-Transport nach Theresienstadt. Keiner von ihnen überlebte. Adolf Freireich war bereits im Herbst 1941 ins Jüdische Krankenhaus in Köln eingeliefert worden und dort am 4. März 1942 verstorben.
Die strafrechtliche Verfolgung des Pogroms vom Pfaffenberger Weg gehörte zu den ersten Solinger Nachkriegsprozessen, die in die Wege geleitet wurden. Alle Angeklagten versuchten sich mehr oder weniger erfolgreich als nicht direkt Beteiligte darzustellen. Es konnte ihnen zwar kein Vorsatz nachgewiesen werden, dennoch stellte das Gericht die besondere Brutalität der Misshandlungen heraus. Die Täter wurden zu Strafen zwischen zehn Monaten und zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt.
Quellen:
– Armin Schulte: „Hier wird Blut gerührt! Das Verbrechen vom Pfaffenberger Weg am 13. Juli 1941“ in: Die Heimat, Heft 27, 2012
– Stadtarchiv Solingen: Stolpersteinbiografien der Familie Brauer/Strauß, Familie Freireich und Vera Stock (Armin Schulte) und Artikel ST vom 24.2.1938.
– Horst Sassin: „Aus der Stahlwahrenstadt Solingen ins Getto von Lodz deportiert“, in: Angela Genger/Hildegard Jakobs (Hg.): Düsseldorf / Getto Litzmannstadt, Essen 2010, S. 337-343
– Solinger Geschichtswerkstatt – Manfred Krause (Hg.): „…dass ich die Stätte des Glückes vor meinem Tode verlassen müsste“ – Beiträge zur Geschichte jüdischen Lebens in Solingen. Solingen 2000
– Geoportal Solingen: Luftbild von 1938
– Landesarchiv NRW Rheinland, Gerichte Rep. 240 Nr. 69
– Hans-Günter Koch: Stolpersteinfoto Freireich