Einführung Dr. Stephan Stracke

Die ersten zwei Monate im „Dritten Reich“

Die Beschäftigung mit der Solinger Widerstandsbewegung führt immer wieder zu der Frage, wie es den Nationalsozialisten gelungen ist, die traditionsreiche und stark verankerte Solinger Arbeiterbewegung in so kurzer Zeit zu besiegen.

Der britische Historiker Tim Mason fragte 1982 mit Blick auf die reichsweite Entwicklung: „Warum hat die Klasse der deutschen Gesellschaft, die weit größere Entrechtung, größere Verfolgung und größere Unterdrückung hat erfahren müssen als alle anderen, das Regime nicht wenigstens einmal massiv attackiert? Warum war der subversive Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime nicht militanter und verbreiteter?“

Schauen wir auf die Ereignisse in Solingen:

Dass sich mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 die ganze (deutsche) Geschichte ändert, war für die Zeitgenoss:innen dieser Tage noch nicht klar. Das Leben ging zunächst normal weiter. Hauptthema war zum Beispiel die grassierende Grippewelle mit vielen Toten, sodass die Solinger Friedhöfe Kapazitätsprobleme meldeten. In der kommunalen Öffentlichkeit wurde die Ausgestaltung eines kommunalen Arbeitsbeschaffungsprogramms diskutiert. Gleichzeitig streikten seit dem 1. Januar 1933 die Messerschleifer. Alles beherrschend war sicherlich die anhaltende existentielle Not. Von 140.116 Einwohnern waren im März 1933 insgesamt 61.951 Personen Bezieher von Wohlfahrts- und Erwerbslosenunterstützung.

Der 30. Januar 1933 in Solingen

Um 11 Uhr ernannte Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Schon am Abend marschierten in Berlin zehntausende SA-Leute. In Solingen blieb es an diesem „Schicksalstag“ der deutschen Geschichte relativ ruhig. Die Demonstration der Nationalsozialisten und des Stahlhelm fand, anders als sich die Zeitzeug:innen erinnerten, erst am nächsten Tag, am Abend des 31. Januar 1933, statt.

Am gleichen Tag hingegen gingen Antifaschist:innen auf die Straße. Über die Stimmung in Solingen berichtete das Solinger Tageblatt: „Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler wurde in Solingen von der Bevölkerung ziemlich ruhig aufgenommen. Wohl wurde das Ergebnis überall eingehend besprochen, auch versuchten gestern Abend im inneren Stadtbezirk von Alt-Solingen Trupps von jüngeren Leuten durch ,Niederrufe‘ zu demonstrieren. Zu ernstlichen Zwischenfällen ist es aber an keiner Stelle gekommen.“ (Solinger Tageblatt (ST) vom 31. Januar 1933)

31. Januar 1933

Morgens verteilten kommunistische Aktivist:innen Aufrufe zum Generalstreik unter anderem bei J. A. Henckels. „Ein Echo bei den Betriebsarbeitern blieb aus“, so erinnerte sich Paul Meuter, „viele Arbeiter winkten ab.“

Um 20 Uhr startete der Fackelzug der NSDAP von der Stadthalle in die Innenstadt mit ca. 1.000 Teilnehmern. Demonstrationen der KPD waren polizeilich verboten. „Im allgemeinen konnte aber Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten werden, da der polizeiliche Schutz recht stark war. Häufig kamen allerdings die Gegensätze zwischen den Demonstranten und dem links eingestellten Teil der Massen durch laute „Heil“- und „Nieder“-Rufe zum Ausdruck. Am Neumarkt stimmten beim Absingen des Horst-Wessel-Liedes durch die Zugteilnehmer die Kommunisten die „Internationale“ an.“ (ST vom 1. Februar 1933)

Der Februar 1933

Die „Machtübernahme“ vollzog sich nur schrittweise. Öffentliche Versammlungen und Aufzüge der KPD wurden am 1. Februar 1933 untersagt. Die „Bergische Arbeiterstimme“ wurde zunächst für zwei Wochen verboten. Trotzdem rüsteten sich alle Parteien einschließlich der KPD für einen halbwegs normalen Wahlkampf für die Reichstagswahl am 5. März 1933.

„Normal“ wurde der Wahlkampf aber nicht. Die Nationalsozialisten, vor allem die SA, hatten in Solingen noch einen schweren Stand. Fast täglich bis zum Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 kam es zu tätlichen und zum Teil bewaffneten Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner. Und der war in Solingen noch sehr stark, in der Regel bewaffnet, selbstbewusst, aber auch ziemlich sorglos.

Schwerpunkte der Auseinandersetzungen waren Ohligs und Wald. Aus Schlägereien entwickelten sich schnell Schießereien mit Verletzten. So beschossen am 9. Februar 1933 Mitglieder der KPD zwei Häuser von Nationalsozialisten als Vergeltung für einen zurückliegenden Überfall. Mitte Februar 1933 hatten, wenn man den Angaben von Paul Meuter Glauben schenken will, sogenannte Feuergruppen der KPD geplant, einen SA-Marsch mit einer Maschinenpistole anzugreifen. Der Angriff soll an einer Ladehemmung gescheitert sein. Vielleicht war den Initiatoren der Aktion auch klar geworden, was ein solcher bewaffneter Angriff, eventuell mit Toten, an staatlichen Reaktionen ausgelöst hätte.

Nach dem Reichstagsbrand

Am 27. Februar 1933 brannte ab 23 Uhr der Reichstag. Sicher ist, dass auch in Solingen am 28. Februar 1933 die Verhaftungen begannen. Der genaue Umfang der Verhaftungen ist nicht bekannt. Schätzungsweise wurden im März und April 1933 etwa 200 Personen, in der Mehrzahl Kommunist:innen, aber auch Sozialdemokrat:innen und Gewerkschafter:innen in Solingen verhaftet. Die „Schutzhaft“ vollstreckte die Polizei zunächst im schnell überfüllten Polizeigefängnis im Keller des Stadthauses, im Gerichtsgefängnis in Ohligs und in den Polizeigefängnissen in Wald und Ohligs. Ein Teil der „Schutzhäftlinge“ kam später ins KZ Brauweiler, ins Gefängnis Anrath, in einen freigeräumten Flügel des Zuchthauses Lüttringhausen und in das KZ Kemna in Wuppertal. Im Juni 1933 ging ein weiterer Transport aus Solingen mit 100 Gefangenen in die neuen Konzentrationslager im Emsland.

Erstaunlich ist, was die Zeitungen über den Tag nach dem Reichstagsbrand aus Solingen berichten. Sie berichteten von „Unruhen“, von Schießereien und Haussuchungen. So traf in der Nähe der Ortschaft Fuhr „eine Streife der Schutzpolizei, die sich in Begleitung von SA-Leuten befand, […] eine Gruppe von 10-12 Kommunisten an. Diese blieben auf Anruf nicht stehen, sondern gaben auf die Beamten aus Pistolen eine Reihe von Schüssen ab. Die Polizei erwiderte das Feuer, worauf die Kommunisten flüchteten.“ In Höhscheid wurde am selben Abend „eine Polizeidoppelstreife des 29. Polizeireviers von einer kommunistischen Klebekolonne beschossen. Die Beamten erwiderten das Feuer, worauf die Täter die Flucht ergriffen.“ (ST vom 1. März 1933)

Zwei Tage später, am 2. März 1933, kommt es zur offiziellen Verpflichtung der Solinger Hilfspolizei. Sie war aus Freiwilligen aus SA, SS und Stahlhelm zusammengesetzt. Sie sollte 100 Mann stark sein, war in Solingen, anders als z.B. in Düsseldorf, aber erst nach dem Reichstagsbrand einsatzbereit. Seither durften SA, SS und Stahlhelm auch offiziell Verhaftungen und Verhöre durchführen.

Trotzdem gelang es der Polizei und den NS-Milizen nicht, bis zur Reichstagswahl am 5. März 1933 die volle Kontrolle über das Solinger Territorium zu gewinnen. Die zahlreiche Anhängerschaft der Solinger KPD hatte sich noch nicht kampflos ergeben.

Die Reichstagswahl vom 5. März 1933

Die Reichstagswahl wurde zum entscheidenden Wendepunkt in Solingen. Die NSDAP wurde mit 37.499 Stimmen und 39,3 % zum ersten Mal stärkste Partei vor der KPD. Auch die bürgerlichen Zeitungen feierten wortreich und voller Genugtuung das Ende des „roten Solingens“.

Vergessen wird bei dieser Einschätzung aber, dass die KPD trotz der Massenverhaftungen und trotz der Wahlniederlage im Reich noch stolze 34.227 Wähler:innenstimmen (35,9 %) gewinnen konnte. Dieses Wahlergebnis reichte von der Stimmenzahl an die großen Wahlerfolge der KPD bei den Reichstagswahlen von 1930 und 1932 heran. Erst bei der Kommunalwahl vom 12.3.1933 sanken die Stimmen der KPD bei einer sehr viel geringeren Wahlbeteiligung auf 26.178.

Das „rote Solingen“ verschwand also nicht über Nacht. Das wusste auch der Kreisleiter der Solinger NSDAP, Helmuth Otto. Am 3. April 1933 formulierte er: „Nunmehr ist es unsere Aufgabe, die noch abseits Stehenden für diese Idee zu gewinnen. […] hier gibt es keine Kommunisten. Wir haben kein Großstadtproletariat. Unsere fleißigen, hochintelligenten, bergischen Arbeiter sind noch niemals Kommunisten gewesen. Es sind verzweifelte Menschen, verzweifelt durch die Not, welche die Systemzeit über sie gebracht hat. Wir werden sie auf unsere Seite zu ziehen wissen.“

Adolf Hitler hatte es im Februar 1926 etwas deutlicher formuliert: „Wir haben nicht eher Ruhe, bis die letzte Zeitung vernichtet ist, die letzte Organisation erledigt ist, die letzte Bildungsstätte beseitigt ist und der letzte Marxist bekehrt oder ausgerottet ist.“ Der Überlebenskampf in den SA-Kellern, Polizeigefängnissen und Konzentrationslagern hatte gerade erst angefangen.

Ich hoffe, dass diese Ausstellung und insgesamt die zahlreichen Initiativen der im Aufbau befindlichen Bildungs- und Gedenkstätte „Max-Leven-Zentrum“ die Solinger NS-Opfer und die Solinger Kämpfer:innen gegen den Nationalsozialismus ausreichend würdigt und zu einer lebendigen und kritischen Gedenk- und Erinnerungskultur in Solingen und im gesamten Bergischen Land beitragen kann.